Im vorigen Blog-Beitrag habe ich mich mit dem Thema Depression auseinandergesetzt, um die Komplexität und die mannigfaltigen Gesichter dieser psychischen Belastung zu zeigen. Ich hoffe, dass es möglich war, Ihnen erste Überlegungen nachvollziehbar zu zeigen, worum es sich bei der Behandlung einer Depression handelt.
Im vorigen Beitrag habe ich ebenfalls erwähnt, dass es Menschen (z. B. Ärzte) gibt, die davon ausgehen, dass eine Depression wie ein grippaler Infekt ist: Manchmal erwischt uns die Depression und manchmal nicht. Behandelnde Ärzte, die eine Depression mit ähnlichen Erkrankungen wie einer Grippe vergleichen, beziehen sich tendenziell auf das Phänomen der rezidivierenden Depression oder der Dysthymie. Nachdem ich diese Diagnosen erklärt habe, werde ich mich intensiver mit dem Thema Dysthymie befassen.
Die Diagnosestellung der wiederauftretenden Depression und der Dysthymie
Eine rezidivierende (wiederauftretende) Depression ist eine psychische Störung, bei der der Betroffene erneut unter einer depressiven Störung leidet. Zum Beispiel leidet jemand unter Depression im Jahr 2025 und hat im Jahr 2020 bereits unter einer Depression gelitten. Die Symptome und die Klassifikation des Schweregrades (leicht, mittelgradig und schwer) bleiben gleich). Der einzige Unterschied in der Diagnostik zwischen einer Depression und einer rezidivierenden Depression ist der wiederauftretende Charakter und mehr nicht.
Eine Dysthymie ist eine anhaltende depressive Störung, die die Kriterien einer Depression (inkl. der leichten Depression) nicht erfüllt. Die depressive Symptomatik muss mindestens zwei Jahre bestehen, bei dem der Betroffene die meisten Tage in der Woche eine depressive Verstimmung aufweist. Der frühere Stand der Psychotherapie beschrieb Menschen, die unter einer Dysthymie leiden, als solche, die unter einer depressiven Persönlichkeit litten. Diese Äußerung gilt deshalb als widerlegt, weil die Persönlichkeit von jeder unter Dysthymie leidenden Person sehr verschieden sein kann. An dieser Stelle wird heutzutage von einer chronischen Depression ausgegangen, wenn man über Dysthymie spricht.
Wenn ein Mensch unter einer Dysthymie leidet und er während dieser Dysthymie eine Depression entwickelt (wiederauftretend oder nicht), wird dieses Phänomen „double depression“ bezeichnet. Im Entwicklungsverlauf einer solchen Problematik ist der Mensch chronisch depressiv (die Dysthymie) und währenddessen finden Ereignissen in seinem Leben, die dazu führen, dass seine depressive Symptomatik sich verschlechtert, statt. Ab diesem Moment erfüllen seine Symptome die Kriterien für eine Dysthymie und für eine Depression. Es ist möglich, dass die Depression abklingelt und die Dysthymie bleibt. Im Rahmen der Möglichkeiten gehört ebenfalls dazu, dass beide Störungen abklingeln.
Laut der Behandlungsleitlinien für eine „double depression“ wird eine Kombination aus Psychotherapie und Medikation empfohlen. Für die Behandlung von Dysthymie sind die Forschungsergebnisse etwas anders. In einer Meta-Analyse von Negt und Kollegen zeigt sich eine mittelgradige bis hohe Wirksamkeit von einer spezifischen Psychotherapie-Methode, die vergleichbar zur Wirksamkeit eines Antidepressivums ist. Die Kombination zwischen der Psychotherapie-Methode und einem Antidepressivum erweist sich als wirksamer als das Antidepressivum alleine. Laut Brakemeier, Guhn und Normann zeigt die Forschungslage auch, dass Menschen, die unter Dysthymie leiden, weniger auf psychopharmakologische Medikation ansprechen. Zu diesem Thema werde ich am Ende des Artikels eine Ergänzende Information schreiben.
Hölzel und Kollegen fassten Forschungsergebnisse zusammen und stellten fest, dass 20% der Menschen, die unter einer depressiven Episode gelitten haben, unter Dysthymie leiden. Dabei handelt es sich um eine Statistik und nicht um eine Prophezeiung. Die Risikofaktoren zur Entstehung einer chronischen Depression, die herausgefunden wurden, sind:
- jüngeres Alter zum Auftrittszeitpunkt einer depressiven Episode;
- längere Dauer der depressiven Episode;
- Vorgeschichte in der Familie bezüglich der Betroffenheit von affektiven Störungen (z. B. Depression, bipolare Störung).
Einhergehend mit einer chronischen depressiven Störung können folgende Themen erscheinen;
- Angststörungen;
- Substanzmissbrauch (Sucht);
- geringe soziale Integration;
- Persönlichkeitsstörungen.
Diese Informationen aus den Forschungsergebnissen von Hölzel und Kollegen sind korrelative Informationen. Das bedeutet, dass diese Informationen nicht mit den Ursachen von der chronischen Depression zu verwechseln sind. Damit erklären die Forscher, dass das Erscheinen einer chronischen Depression mit solchen Merkmalen einhergehen können. Hier sind Beispiele zwecks der Verdeutlichung:
- In meiner klinischen Erfahrung fühlen sich Menschen, die unter Sucht leiden, oft leer, was chronisch depressive Menschen erleben können.
- In den Behandlungsleitlinien von Dysthymie ist es sinnvoll, die Persönlichkeit im Rahmen der psychotherapeutischen Begegnung zu behandeln, was mit meinen klinischen Erfahrungen mit solchen Menschen übereinkommt.
Es heißt allerdings nicht, dass Sucht und Persönlichkeitsstörungen eine chronische Depression verursachen können: Es gibt Menschen, die ohne Depression unter Sucht leiden und ohne Depression die Kriterien einer Persönlichkeitsstörung erfüllen.
Ich hoffe, dass diese Erklärungen einen ersten Einblick in das Phänomen der chronischen und wiederauftretenden Depression gibt.
Ist die chronische Depression wie ein grippaler Infekt, der immer wieder kommt, oder nicht?
Wenn ein Arzt die Äußerung von sich selbst preisgibt, dass man sein ganzes Leben immer wieder mit Depression kämpfen müsse, könnte es damit zusammenhängen, dass es bestimmte Depressionsformen gibt, die als therapieresistenter wahrgenommen werden. In gewisser Hinsicht könnte die Ansicht des Arztes damit verbunden sein, dass er sich hilflos dem Problem gegenüber fühlt. Aufgrund der erschwerten Handhabbarkeit und Verstehbarkeit vermittelt die chronische Depression einen willkürlichen Charakter, der sich mit dem Auftreten eines grippalen Infekts vergleichen lassen könnte.
Allerdings sind psychische Symptome Gesetzmäßigkeiten unterworfen, die nicht so offensichtlich sind. Wenn Sie sich an das Beispiel mit Jim Carrey erinnern, der behauptete, dass eine Depression eine Reaktion (eventuell unbewusst) darauf sei, eine Rolle in unserer Umgebung nicht mehr spielen zu wollen/zu können, spricht er über die Funktionalität eines Symptoms: Mit einem für uns nicht passenden Lebensstil aufhören und seine Lebensführung in Frage zu stellen, um z. B. unser Verhalten an unsere Werte anzupassen.
Die Funktionalität eines Symptoms kann ebenfalls in der Medizin beobachtet werden: Der Körper entwickelt z. B. Fieber bei einem Infekt. Eine Fiebersymptomatik kann zum Beispiel derart interpretiert werden, dass der Körper sich herunterfährt, damit der Betroffene nicht anfängt, sich zu sehr anzustrengen, wie er dies ansonsten im Alltag machen würde. Bei Fieber möchte man z. B. nur im Bett liegen und schlafen, damit die Energie, die man hat, benutzt wird, um den Infekt zu bekämpfen. Wenn ein Körper keine Reaktion auf einen gefährlichen Virus zeigt, kann man dies als schlechtes Zeichen interpretieren, weil der Körper gegen die Belastung nicht kämpfen kann. Für mich lässt sich dieses Beispiel mit Menschen vergleichen, die Wärme oder Kälte nicht mehr empfinden können: Es ist eine gesunde Reaktion, wenn man seine Hand auf die heiße Kochplatte legt, dass das Nervensystem möglichst schnell aktiv wird und die Hand von der Kochplatte entfernt. Es kann schädlich sein, keine Reaktion zu haben und die Hand auf der Kochplatte stehen zu lassen, auch wenn ich die Hitze nicht spüre. Letztendlich leben Menschen, deren Schmerzrezeptoren nicht funktionieren, kürzer (siehe Quellenangaben).
Wie lässt sich die Funktionalität einer chronischen Depression deuten? Ein Beispiel von den Oberbergkliniken (siehe Quellenangaben) lautet wie folgt: In dem Ansatz der systemischen Therapie wird die chronische Depression wie ein Symptom verstanden, was der Stabilisierung eines gefährdeten Familiensystems dient. Chronisch depressive Menschen sind z. B. in unharmonischen und konfliktreichen Familien aufgewachsen und die depressive Reaktion kann als Lösung wahrgenommen werden, um die Familie nicht mehr zu gefährden, da diese bereits genug gefährdet ist. Die Dysthymie könnte somit als Anpassungsreaktion gedeutet werden, auch wenn sie andere Probleme mit sich selbst bringt. Aus meiner Sicht ist es eine Form von Selbstschutz als Kind, seine Interessen in einer konfliktreichen Familie nicht mehr zu vertreten und depressiv zu werden. Bei konfliktreichen Familien besteht das Risiko, dass das Vertreten seiner eigenen Interessen zu aggressiven/abwertenden Reaktionen vonseiten anderer Familienmitglieder führt, die bedrohlichere Konsequenzen haben könnten, als depressiv zu sein.
Um auf die ursprüngliche Frage dieser Überschrift zurückzukommen: Eine chronische Depression lässt sich erschwert mit einem grippalen Infekt vergleichen, da die depressive Reaktion (die nicht biologisch bedingt wie bei einer Schilddrüsenunterfunktion ist) einen Sinn im Rahmen der Umgebung des Betroffenen aufweist. Im Gegensatz ist eine Grippe ein Fremdkörper, der in unser Leben eindringt und nach einer Weile sich verabschiedet. Somit ist es sehr schwer, einer Grippe einen Sinn zuzuschreiben während eine (chronische) Depression einen solchen Spielraum zulässt.
Gibt es Merkmale, die chronisch depressive Menschen auszeichnen?
In ihrem Buch über die Behandlung von chronisch depressiven Patienten berichten Brakemeier, Guhn und Normann, dass etwa 75% aller Betroffenen den Beginn ihrer chronischen Depressivität in der Kindheit erlebten. Darüber hinaus erlebten sie verschiedene Formen von Traumatisierungen in der Kindheit (z. B. emotionale Vernachlässigung, körperliche Vernachlässigung, emotionaler Missbrauch, körperlicher Missbrauch, sexueller Missbrauch).
Zudem gelten chronisch depressive Menschen als „therapieresistent“, weil sie auf zwei verschiedene Medikamente nicht angesprochen haben. Es ist wichtig, im Allgemeinen darauf zu achten, die Menschen nicht als therapieresistent zu bezeichnen, weil die Möglichkeit besteht, dass sie schlichtweg eine für sie nicht passende Behandlung erhalten haben.
Brakemeier, Guhn und Normann fassen die Beobachtungen von McCullough über chronisch depressive Menschen, um einige Merkmale über diese Menschen zu beschreiben:
- Wiederholter Ausdruck von Hilflosigkeit und Elend;
- Unterwürfiges und überfordertes Verhalten;
- Auffälliges Misstrauen in zwischenmenschlichen Beziehungen (In meiner Erfahrung braucht es nicht „viel“ (z. B. ungünstige Wortwahl oder Frage bei guten Absichten), dass ein Mensch mit Dysthymie in einer Ablehnungshaltung einem anderen Menschen gegenüber ist);
- Eine tief verankerte Überzeugung, dass die Depressivität nicht unter Kontrolle zu bringen ist;
- Feste Verhaltensmuster, die den Eindruck vermitteln, sich weder durch positive noch durch negative Ereignisse beeinflussen lassen zu können.
Darüber hinaus fassen Brakemeier, Guhn und Normann die Beobachtungen von McCullough weiter und derart zusammen, dass aufgrund der Traumatisierungen, die chronisch depressive Patienten erlitten haben, sie folgende weitere Merkmale zeigen:
- Sprechen im Monolog (weniger Einbezug und Berücksichtigung des anderen im Gespräch);
- Fehlende Wahrnehmung der Konsequenzen eines ausgeführten Verhaltens (Entkoppelung der Wahrnehmung von der Umwelt);
- Egozentrismus (Inhalte des Gesprächs bezieht sich mehr auf den Betroffenen selbst. An dieser Stelle handelt es sich nicht um eine Form des Narzissmus, bei dem man abzielen würde, sich selbst aufzuwerten, indem man einen anderen abwertet. Es handelt sich eher um eine fehlende Perspektivübernahme des Gegenübers und eventuell um ein fehlendes Interesse für das Gegenüber);
- Wenig Mitgefühl;
- Kaum Beeinflussung der Denkweise durch Rückmeldung anderer Menschen;
- Wenig emotionale Kontrolle unter Stress (ich gehe davon aus, dass hier die Fähigkeit der Selbstregulation gemeint ist. Das bedeutet, dass der Mensch Schwierigkeiten hat, sein Verhalten im Hinblick auf selbst gesetzte Ziele zu steuern).
An dieser Stelle sprechen die Autoren von einer durch die Traumatisierungen verhinderten Entwicklung, die in früheren Lebensphasen zum Stillstand kamen, was einen Mangel an sozialen Kompetenzen (inkl. Empathie) begünstigte. Im Grunde genommen wird davon ausgegangen, dass diese Menschen so viele Erlebnisse durchlebten, die sie daran hinderten, sich mit Menschen positiv zu verbinden und das Gefühl zu bekommen, dass ihr Verhalten einen wirksamen und positiven Einfluss auf die Erreichung ihrer Wünsche und Ziele haben kann. An dieser Stelle könnte man von erlernter Hilflosigkeit sprechen.
Darüber hinaus ist es wichtig zu betonen, dass diese nicht (oder kaum) ausgebauten Kompetenzen nicht zwangsläufig mit dem Intelligenzniveau zusammenhängen: Sehr intelligente Menschen mit großem Erfolg in der Karriere können unter chronischer Depressivität leiden.
Dies würde aus meiner Sicht gut erklären, weshalb eine alleinige Medikation bei chronisch depressiven Patienten nicht sonderlich wirksam ist: Ein Medikament in der Psychopharmakologie hat zum heutigen Zeitpunkt nicht die Möglichkeiten, Entwicklungsaufgaben (z. B. Lernen von Empathie und/oder Selbstwirksamkeit) für den Betroffenen nachzuholen, damit der Mensch lernen kann, sich positiv mit anderen Menschen zu verbinden und das Gefühl zu haben, seine Umwelt durch sein Denken und sein Handeln beeinflussen zu können. Neue Verhaltensweisen und Denkmuster zu lernen und auszuprobieren bedarf Zeit und einer passenden Lernumgebung. Darüber hinaus kann eine Aufarbeitung der (traumatischen) Vergangenheit hilfreich sein, um die Fähigkeit zu erwerben, die Vergangenheit, die uns in unserer gegenwärtigen Wahrnehmung beeinflusst, von der Gegenwart zu trennen und sich somit für alternative Verhaltensweisen zu entscheiden, um z. B. aus dem Gefühl des Ausgeliefertseins herauszukommen.
Abschließende Worte
Ich hoffe, dass dieser Beitrag einen Einblick geben durfte, was eine chronische und eine wiederauftretende Depression sind und woran jemand arbeiten könnte, um seinen Zustand und somit seine Lebensqualität zu verbessern. In einem weiteren Beitrag werde ich mich mit der Psychotherapie von der chronischen Depression befassen.
Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Quellenangaben
Brakemeier, E.-L, Guhn, A., & Normann, C. (2021): Praxisbuch CBASP (2. Auflage). Beltz.
Hölzel, L., Härter, M., Reese, C., & Kriston, L. (2011). Risk factors for chronic depression—a systematic review. Journal of affective disorders, 129(1-3), 1-13.
Negt, P., Brakemeier, E. L., Michalak, J., Winter, L., Bleich, S., & Kahl, K. G. (2016). The treatment of chronic depression with cognitive behavioral analysis system of psychotherapy: A systematic review and meta‐analysis of randomized‐controlled clinical trials. Brain and Behavior, 6(8), e00486.
Weisman, A., Quintner, J., & Masharawi, Y. (2019). Congenital insensitivity to pain: a misnomer. The Journal of Pain, 20(9), 1011-1014.
Leitlinien zur Behandlung von Depression: https://www.dgppn.de/_Resources/Persistent/d53e5967ade4134e444e71973752e10bcaebda79/S3-NVL_depression-2aufl-vers1-kurz.pdf
Webseite von den Oberbergkliniken: https://www.oberbergkliniken.de/krankheitsbilder/dysthymie
Definition von Selbstregulation: https://dorsch.hogrefe.com/stichwort/selbstregulation