Als ich angefangen hatte, meine Tätigkeit im Bereich der Psychotherapie zu vertiefen, bin ich zu einem Punkt gekommen, bei dem ich für mich festgestellt hatte, dass Menschen einen Grad an Akzeptanz ihren Symptomen gegenüber benötigen, um die Belastungen zu verbessern und dementsprechend an Lebensqualität zu gewinnen. Der erste Schritt, sich Hilfe zu holen, kann eine enorme Angst auslösen, weil niemand weiß, welcher Therapeut uns begegnen wird und wie dieser Mensch mit unseren intimen und verletzlichen Anteilen umgehen wird. Anzunehmen, dass jemand ein Problem hat und er deshalb Unterstützung benötigt, setzt Mut und Stärke voraus, um sich einen solchen Zustand einzugestehen und danach einen Behandler zu kontaktieren. Anschließend besucht dieser bedürftige Mensch einen Psychotherapeuten oder einen Psychiater, ihm wird erklärt, was er möglicherweise hat (ein Verdacht) und am Ende sollte eine passende Diagnose gefunden werden. Das Wort Diagnose (Di = zwei; Gnose = Erkenntnis) bedeutet von seiner Herkunft, dass eine Unterscheidung gemacht wird, um zu erkennen, was ein Mensch hat, Daraus kann abgeleitet werden, dass ein Behandler versucht herauszufinden, was ein Mensch anders macht, seine „Besonderheit“.
Diagnosen im Alltag und in der Psychotherapie
Die Herkunft des Wortes „Diagnose“ enthält bereits ein Problem: Mit einer Diagnose kann ein Behandler einem Menschen ein Brandmal geben. Er ist anders, also nicht wirklich „normal“. Eine Person hat z. B. eine Persönlichkeitsstörung, somit stimmt etwas mit ihrer Persönlichkeit nicht. Ein anderer Mensch hat eine Depression, somit kann er nicht wie andere Leute „einfach funktionieren“. Menschen, die nicht im psychotherapeutischen Setting arbeiten, setzen solche Brandmale in der Alltagssprache auch: Dieser Mann ist ein Narzisst, weil er seine Bedürfnisse zum Nachteil meiner Bedürfnisse bevorzugt. Mit einer solchen Aussage wurde ein Erklärungsversuch geliefert („Er hat das getan, weil er ein Narzisst ist“), warum dieser Mann ein solches Verhalten gezeigt hat und dabei wird eine Abneigung ihm gegenüber geäußert („Ich mag das nicht, wenn ich von anderen Menschen in meinen Bedürfnissen nicht gesehen werde, obwohl ich mich bemühe, die Bedürfnisse anderer Personen zu berücksichtigen“). In diesem Fall würde ich behaupten, dass der Erklärungsversuch den Zweck hat, sich von diesem Menschen distanzieren zu wollen, weil davon ausgegangen wird, dass der „Narzisst“ das Bedürfnis, berücksichtigt und gesehen zu werden, nicht erfüllen kann. Es ist ein sehr menschliches Verhalten, ein solches Brandmal zu setzen, wenn man frustriert ist. In Psychotherapie sollte das ganz anders verlaufen.
Ziel einer Unterscheidung/Diagnose im psychotherapeutischen Setting ist, dass ein Behandlungsplan daraus abgeleitet werden kann. In Deutschland ist es üblich, dass dem Klienten mitgeteilt wird, welche Diagnose seiner Belastung eher entspricht. Es ist sinnvoll, eine solche Herangehensweise zu vertreten, da der Mensch sich auch aktiv am Behandlungsplan beteiligen kann, wenn er weiß, an was er mit dem Therapeuten arbeiten könnte, damit sein Leben besser wird und seine Lebenszufriedenheit steigt. In der Verhaltenstherapie gibt es sogar einen Ansatz, der sich spezifisch darum bemüht, die Selbstständigkeit im Umgang mit dem Problem des Patienten zu fördern (Selbstmanagement-Therapie von Frederick Kanfer). Dafür wird Transparenz (Ehrlichkeit/Durchsichtigkeit) vonseiten des Therapeuten benötigt, damit der Klient Zugang zum Wissen des Therapeuten bekommt, um dieses selbstständig in seinen Alltag zu integrieren. Wenn eine Diagnose eine solche positive Funktion aufweist, sollten wir sicher sein, dass die Diagnosen, die wir als Therapeut verwenden, die richtigen sind.
Wer legt fest, was eine Diagnose/Erkrankung ist?
Im medizinischen System für Psychotherapie werden Diagnosen von Manualen, die Erkrankungen, deren Symptome und zum Teil deren Ursachen und Behandlungsmethoden beschreiben, festgelegt. In diesem Sinne besagen diese Manuale, welche Erkrankungen und welche Behandlungsmethoden (und deren Wirksamkeit) es gibt. In Europa gibt es die International Classification of Diseases (ICD-10/11: „Internationale Klassifikation von Erkrankungen“ – 10. Auflage auf Deutsch und 11. Auflage auf Englisch) von der Weltgesundheitsorganisation und The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5 „Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen – 5. Auflage) von der American Psychiatric Association (APA: „Amerikanischer Psychiaterverband“). In Europa ist die ICD-10/11 Pflicht, um im Behandlungskontext zu diagnostizieren, wohingegen das DSM-5 in Nordamerika Anwendung findet. Zu Forschungszwecken werden beide Manuale herangezogen, um die Wirksamkeit einer Behandlung für eine psychische Erkrankung/Diagnose zu untersuchen.
Darüber hinaus sollte berücksichtigt werden, auch wenn die Verfasser solcher Manuale sicherlich gute Absichten haben, dass diese Manuale festlegen, was gesellschaftlich psychotherapeutisch behandelt werden darf/soll. Damit möchte ich Ihnen die Deutung anbieten, dass diese Manuale leider als Machtinstrumente verwendet werden können. Sowohl in früheren Auflagen von der ICD als auch vom DSM galt z. B. Homosexualität als Erkrankung, was heute keine Berücksichtigung mehr findet. Damals bedeutete das, dass Homosexualität eine psychische Erkrankung war, die behandelt werden sollte, was Menschen stigmatisierte (brandmarkte). Obwohl Homosexualität im Tierreich als normales Verhalten zu finden ist, waren das DSM und die ICD in diesem Fall ein Abbild von dem, was in einer Gesellschaft verpönt war (und leider manchmal immer noch ist). Für mich wirft diese Idee die Frage auf, wenn Homosexualität von Anfang an als normale und akzeptable Bevorzugung angenommen worden wäre, ob diese Menschen jemals darunter gelitten hätten, homosexuell zu sein.
Es gibt natürlich positive Seiten von der Aufnahme von Diagnosen in Manuale: Aktuell wird in der ICD-11 die Inkongruenz zwischen dem erlebten Geschlecht und dem biologischen Geschlecht (z. B. jemand, der das männliche Geschlecht bei der Geburt aufweist, aber sich dem weiblichen Geschlecht zugehörig fühlt) nicht mehr als Erkrankung gesehen. Die Begründung der WHO ist, dass ein solches Thema nicht mehr als Erkrankung gelte, um zu vermeiden, Menschen zu stigmatisieren. Allerdings könne die Inkongruenz einen Leidensdruck erzeugen, was berechtige, dass Menschen mit solchen Problemen Unterstützung erhalten. Im Grunde genommen können gesellschaftliche Veränderungen auch dazu führen, dass Unterstützung angeboten wird, ohne einen Menschen zu stigmatisieren. Ein anderer positiver Aspekt ist, dass neue Diagnosen hilfreich sein können, um den Zugang zu von den Krankenkassen finanzierten psychotherapeutischen Behandlungen zu ermöglichen: In der ICD-11 gibt es z. B. die Videospielsucht, was in der ICD-10 keine Berücksichtigung findet.
Muss eine Diagnose eine Erkrankung sein?
Wenn eine Diagnose ein Unterscheidungsmerkmal ist, dann ist es aus psychotherapeutischer Sicht wichtig, dass der Behandler sich die Frage stellt, ob ein solches Merkmal nur eine Erkrankung sein kann. In einem psychotherapeutischen Ansatz wie der Schematherapie von Jeffrey Young wird von Limited Reparenting („begrenzte Nachbeelterung“) geschrieben. Damit wird gemeint, dass die Grundbedürfnisse (z. B. Autonomie, Grenzsetzung, Akzeptanz) eines Menschen in der Kindheit sehr frustriert wurde, was zu verschiedenen Verhaltensweisen, Gedanken, stark ausgeprägten Emotionen und Annahmen über sich selbst und die Welt geführt hat, die einen Leidensdruck auslösen. Wenn jemand zu wenig Anerkennung bekommen hat und seine Leistung selten gewürdigt wurde, kann das Unterscheidungsmerkmal sein, dass dieser Mensch mehr Würdigung für seine Ansichten und seine Leistungen benötigt, um ein besseres Bild von sich selbst zu entwickeln. Jemand, der zu oft beschämt wurde, ist es wichtig, ihm zu zeigen, dass er ein guter Mensch mit guten Anteilen hat und seine Bedürfnisse im Umgang mit anderen Menschen berücksichtigt werden darf.
Ich möchte diesen Beitrag damit abschließen, dass das Ziel einer Diagnose ist, die Bedürfnisse unserer Klienten zu erkennen und ihnen zu helfen, Wege außerhalb der Therapiestunden herauszufinden, Zufriedenheit und Entlastung zu erfahren. Sollten Sie in Behandlung sein und ein Therapeut Ihnen eine Diagnose vorschlägt, um Ihr Problem zu erklären, möchte niemand Sie brandmarken. Gehen Sie bitte auch mit sich selbst so um, dass Sie neugierig bleiben zu entdecken, welche unerfüllten Bedürfnisse hinter der Diagnose des Therapeuten stecken könnten.
Quellen
- Kanfer, F. H., Reinecker, H., & Schmelzer, D. (2006). Selbstmanagement-therapie. Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-211-69499-2_47
- Young, J. E., Klosko, J. S., & Weishaar, M. E. (2006). Schema therapy: A practitioner’s guide. guilford press. https://doi.org/10.1080/10503300512331335066
- Weltgesundheitsorganisation zum Thema Geschlechtsinkongruenz: https://www.who.int/standards/classifications/frequently-asked-questions/gender-incongruence-and-transgender-health-in-the-icd
Das ist ein Beitrag von Pierre-Marc Paré. Um meine Homepage zu besuchen, klicken Sie hier