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Stellen Sie sich vor, dass zwei Frauen, Chelsea und Lucy sich auf der Straße begegnen. Beide gelten als „Bekannte“ füreinander. Lucy ergreift die Initiative und fängt an, Chelsea anzusprechen:

Lucy: Chelsea! Chelsea!

Chelsea: Oh…hey, Lucy, wie geht es dir?

Lucy: Mir geht es gut. Und wie läuft das Leben bei dir?

Chelsea: Das Leben läuft gut. Danke der Nachfrage!

Solche Szenen kennen Sie sicherlich genug aus Ihrem Alltag. Auch wenn die Frage, wie es einem geht, in Deutschland nicht sonderlich üblich gewesen war, nimmt sie bei jungen Menschen zunehmend Platz ein. Wenn wir bedenken, dass das Leben grundlegend nicht einfach ist, weil wir sterbliche Wesen sind, die Herausforderungen täglich erleben und nicht jeden Tag die Sicherheit besteht, wann unser Leben sein Ende finden wird, ist es manchmal verwunderlich, dass Menschen wie Lucy und Chelsea solche Gespräche, die wenig Tiefgang aufweisen, führen. Als Experiment versuche ich jetzt das Gespräch derart zu schreiben, dass man zumindest einen Zugang zu den Gedanken unserer Beteiligten bekommen.

Lucy: Chelsea! Chelsea! (Lucy denkt: Chelsea ist sehr nett und ich möchte keinen schlechten Eindruck, deshalb sage ich ihr „hallo“.)

Chelsea: Oh…hey, Lucy, wie geht es dir? (Chelsea denkt: Hoffentlich sieht sie den Stress in meinem Gesicht nicht. Ich sollte lächeln.)

Lucy: Mir geht es gut. Und wie läuft das Leben bei dir? (Lucy denkt: Mein Sohn macht mir Stress, weil er für die Schule nicht lernt und schlechte Noten schreibt. Mein Mann kümmert sich zu wenig um den Haushalt und ich arbeite genauso viel wie er. Meine Mutter ist derzeit nicht einfach und es fühlt sich wie in der Kindheit an. Mein Chef stresst mich, weil wir uns an so viele Deadlines halten müssen, da ein Projekt bald fertig werden muss. Ich möchte noch unseren Urlaub planen, aber so viel Zeit dazu haben wir nicht.)

Chelsea: Das Leben läuft gut. Danke der Nachfrage! (Chelsea denkt: Ich bin nicht sicher, dass ich meine Arbeitsstelle behalten werde. Manchmal fühle ich alleine und traurig zu Hause. Ich würde so gerne darüber reden und neue Wege finden, mein Leben umzugestalten.)

Natürlich können wir davon ausgehen, dass Chelsea und Lucy gute Dinge in ihrem Alltag haben. Sicherlich hat Lucy gute Momente mit ihrer gesamten Familie und Chelsea erlebt wahrscheinlich schöne Momente mit Freunden und in der Arbeit, auch wenn die Situation kritisch ist.

Die „Wie geht es dir?“-Frage, wenn man sie in einem oberflächlichen Gespräch stellt, vermittelt falsche Eindrücke. Es ist zunächst einmal nicht offensichtlich, aber diese Frage weist eine hohe Komplexität auf, die für Alltagsbegegnungen nicht angemessen ist. Das Wort „gut“ ist eine Bewertung über einen Sachverhalt. Die Antwort „gut“ sagt zunächst einmal meinem Gesprächspartner nicht, was in meinem Leben los ist. „Gut“ bedeutet für jeden einzelnen etwas anderes. Wenn ich z. B. sage, dass etwas gut ist, weil ich Sport machen konnte, werden andere Menschen dieses „gut“ als „schlecht“ betrachten, weil sie selbst lieber fernsehen würden und mehr Zeit für Letzteres nehmen möchten. Wenn jemand mir sagt, dass es ihm „gut geht“, hat meine Fantasie praktisch einen freien Lauf, sich vorzustellen, was sie will, solange mir keine Details erzählt werden. Sollte Chelseas und Lucys Gespräch sich anschließend um das Wetter drehen, werde ich am Ende nicht schlauer werden, was „gut“ für die beiden bedeutet.

Wie oft führen wir substanzlose Gespräche mit anderen Menschen? Sicherlich genug. Das Leben enthält ausreichend Herausforderungen für uns alle:

  • Verlust eines/einer Geliebten;
  • Auftreten von Krankheiten;
  • Verlust der Arbeitsstelle;
  • Scheitern in Momenten, in denen wir sehnsüchtig uns erhofft hätten, Erfolg zu haben;
  • Reue, etwas Falsches/Verletzendes gesagt/getan zu haben;
  • Beschämungs- und Mobbingerfahrungen;
  • Fehlende Wertschätzung in Situationen, in denen wir uns besonders bemüht haben, um gesehen zu werden;
  • Ablehnungserfahrungen in jeglicher Form und in jeglichem Kontext;
  • Gewalt und Missbrauch;
  • Unfälle;
  • usw.

Wenn man besonders Pech hat, kann man alles davon erlebt haben. Wenn jemand behaupten würde, dass das Leben fair wäre, wäre das ebenfalls nicht richtig. Als Gesellschaft können wir das Bestreben erzielen, die Chancengleichheit für alle zu fördern, aber das wird nicht zwangsläufig bedeuten, dass jeder es erfolgreich schaffen wird, seine Träume innerhalb dieser Gesellschaft zu verwirklichen. Viele Faktoren können uns verhindern, diesen sogenannten Erfolg zu haben. Manchmal ist es unser Können und manchmal liegt es an den Umständen, die uns nicht die richtigen Mittel zur Verfügung gestellt haben. Eine Kombination aus beiden ist ebenfalls möglich.

Damit wollte ich beschreiben, dass es verwunderlich, dass wir uns über die Themen in der Stichpunktliste nicht öfter unterhalten. Es ist eher der Fall, dass ein Gespräch über Belastungen entlastend ist und die Laune verbessert. Persönlich nehme ich wahr, dass es für Menschen wichtig ist, den Eindruck auszustrahlen, dass sie ihr Leben im Griff haben und einen guten Eindruck zu machen. Nach dem folgenden Exkurs werde ich diesem Thema nachgehen.

Exkurs: Werbung und ausgestrahltes Glück

Wenn ich meinen Fernseher aufmache und Werbung läuft, sind fast immer strahlende und fröhliche Gesichter zu sehen. Selten enthält eine Werbung ein trauriges Gesicht, außer wenn es sich um Werbung für einen Notdienst, eine Krankheit oder eine Art psychische Hilfe handelt. Wenn ich diese Deutung von mir fortsetze und übertreibe, würde dies bedeuten: Wenn man nicht lächelt und Freude ausstrahlt, ist man schon nicht mehr normal.

In meinem Studium habe ich gelernt, dass Edward Barneys, der Neffe von Sigmund Freud, die Welt der Werbung und weitere Branchen im Bereich der Kommunikation beeinflusst hat. Vor seiner Zeit wurden Werbungen derart gestaltet, dass der Kunde Interesse an einem Produkt gewinnen sollte, wenn er sich die rationalen Argumente für das Produkt anhört. Zur Lebenszeit Barneys war es noch nicht bekannt, dass Zigaretten ungesund waren und somit wurde ebenfalls mit Vernunft argumentiert, sodass Menschen auf den Geschmack kommen, Zigaretten zu kaufen. Barneys Idee, um der Zigarettenindustrie zu helfen, war, dass Menschen sich mit dem Produkt und dessen Bedeutung identifizieren sollten, um Zigaretten kaufen zu wollen. Das würde bedeuten, dass man das Produkt kauft, um zu versuchen, sich an dieses Ideal in der Werbung anzunähern. Barneys Taktik galt als großen Erfolg und seitdem nehmen Werbungen eine solche Gestalt ein. In Deutschland gibt es noch Werbung für Zigaretten und diese vermitteln ebenfalls den Anschein, dass, wenn man Zigaretten raucht, man in einen Genuss in seiner Freizeit mit guten Freunden geraten wird.

Um von der Zigarette wegzukommen, kommt mir öfter eine Orangensaft-Werbung in den Sinn, um dieses Phänomen zu illustrieren: Eine junge Familie befindet sich auf einer Wiese und macht ein Picknick in der Nähe eines Strandes. Die Mutter, sehr schlank und hübsch, sitzt auf einer Decke im Bikini, während der Vater mit ihren zwei Kindern auf sie zulaufen. Jeder ist schlank und hübsch und jeder sieht glücklich aus, als ob das menschliche Genom nur das Programm „Lächeln und Lachen“ zur Verfügung hätte, um zu kommunizieren. Am Ende der Werbung sagen die Kinder der Mutter etwas Positives, darauffolgend trinkt sie ihren Orangensaft und strahlt Genuss aus. Abschließend wird der Orangesaft im Großformat präsentiert und ein Slogan wird dann gesagt, damit man diesen Slogan mit dem Saft verbindet.

Auch wenn niemand das explizit gesagt hat, gehe ich davon aus, dass diese Werbung uns Folgendes vermitteln möchte: Wenn Sie unser Produkt kaufen, werden sie glücklich aussehen wie diese Familie. Auch wenn diese Meinung selten verbreitet wird, gilt ein Orangensaft als ein relativ ungesundes Produkt, da das direkte Verzehren des Saftes ohne das Fruchtfleisch die Produktion von Glukose im Blut, was Diabetes begünstigen kann, fördert. In Wirklichkeit ist es so, wenn man den Orangensaft in der Werbung regelmäßig konsumiert (was die Firma sich erhofft), wird niemand die Figur dieser Frau in der Werbung entwickeln.

Im Grunde genommen können Sie davon ausgehen, dass Werbung darauf ausgerichtet ist, Ihnen den Eindruck zu vermitteln, Glück kaufen zu können, obwohl ein Produkt ein solches Versprechen nie erfüllen könnte.

Zurück zum Small-Talk

Wenn wir uns erneut diese Alltagsgespräche vor Augen führen, möchte ich Small-Talk tatsächlich nicht abwerten. Wir können nicht jedem Menschen alles anvertrauen, ohne sichergestellt zu haben, dass unser Gegenüber mit dieser Information über uns verständnisvoll und fürsorglich umgehen wird. Der Small-Talk gibt uns einen Raum, um herauszufinden, ob wir die Kommunikation mit unserem Gegenüber vertiefen können.

Darüber hinaus gibt es ebenfalls die Möglichkeit, dass die Alltagsgespräche uns helfen, aus unserem Alltag herauszukommen. Im Sinne von Alain de Botton (siehe Interview in den Quellenangaben), kann ein banales Gespräch auch eine Chance sein, sich neu zu definieren. Da Chelsea und Lucy sich in diese Rolle der „Bekannten“ hineinbegeben, erleben Sie die Möglichkeit, ein anderes Bild von sich selbst (und für sich selbst) zu geben, was angenehm für die beiden sein kann.

Im aktuellen Zeitgeist sprechen wir oft darüber, im Umgang mit anderen Menschen authentisch sein zu sollen. Es wird an dieser Stelle davon ausgegangen, dass Authentizität zu unserer Zufriedenheit beitragen wird. Wie Sie eventuell von Ihren Großeltern oder von Menschen von früheren Generationen erfahren haben, war das Bestreben nach Zufriedenheit nicht unbedingt mit diesem Verhalten des „Echtseins“ verbunden, sondern sich in seine Rolle in der Gesellschaft hineinzubegeben.

Oft ist es eher der Fall (und heute immer noch), dass die soziale Harmonie wichtiger ist als die Authentizität. Das bedeutet, dass der Kontext, in dem wir uns befinden, unser Verhalten beeinflussen wird. Menschen können sich heutzutage zum Teil unter Druck fühlen, unabhängig vom Kontext echt zu sein, obwohl Authentizität im übertriebenen Ausmaß und in den „falschen“ Situationen eine schädliche Auswirkung aufweisen kann: Es ist entweder die falsche Person oder der falsche Moment, etwas Intimes anzuvertrauen oder gewisse Charakterzüge von uns selbst preiszugeben.

Außerdem möchten wir nicht immer unsere intimsten Seiten jedem anvertrauen. In unserem Leben gibt es Menschen, die andere Rollen erfüllen; dieser Freund ist der Lustige, während diese Freundin eine Person des Vertrauens für unsere Verletzlichkeiten ist. Als Therapeut kann ich mich authentisch verhalten, indem ich mitteile, was die Aussage eines Klienten in mir auslöst, aber ich muss nicht alles erzählen, was mich betrifft. Meine Rolle wird beeinflussen, wie ich mich verhalte. Es ist ein Kunstwerk, im Alltag herauszufinden, wie ich mich in einer Art und Weise passend zum Kontext verhalten kann, ohne mich unangenehm zu verstellen und dabei das Interesse in meinem Gegenüber zu wecken. Jeder spielt eine Rolle und es ist unsere Herausforderung, in einer Art und Weise zu spielen, die für uns alle angenehm ist, somit jeder die Situation zufrieden verlassen kann.

Ein Problem ist, wenn dieses Spiel uns zu sehr belastet.

Es geht den anderen gut. Vielleicht stimmt etwas mit mir nicht?

Es kann passieren, wenn wir in unserer aktuellen Lebenslage zu sehr belastet sind, dass uns die Energie und das Interesse fehlen, um an diesem Spiel, sich in eine Rolle zu hineinzubegeben, teilzunehmen. Daraufhin kann es ein Hinweis dafür sein, Kontakt mit Vertrauenspersonen zu suchen, um über unsere Belastungen zu sprechen.

Eine andere Grundlage, warum Alltagsgespräche uns belasten können, bezieht sich darauf, dass unser Vorstellungsvermögen aktuell zu eingeschränkt ist. In meiner Arbeit habe ich öfter Berichten von Menschen gehört, die meinen, weil jemand in einem Small-Talk mitgeteilt hat, dass es ihm gut geht, dass es wirklich so ist. Der Small-Talk wurde als Grundlage genommen, um neidisch zu sein. Neid in einem Small-Talk zu erleben, kann ein Hinweis sein, dass es uns an Empathie/Verständnis fehlt, weshalb Menschen sich positiv über sich selbst äußern. An dieser Stelle gehen Menschen davon aus, dass der Anschein, den ich in einem Small-Talk ausgestrahlt habe, deckungsgleich mit der Realität (was ich nicht anvertraut habe) ist. In unserer gegenwärtigen Welt wird oft davon ausgegangen, dass der Anschein mit der Realität gleichzusetzen ist. Es ist richtig zu behaupten, dass der Anschein einen Bestandteil der Realität darstellt, weil sie zu unserer sozialen Kommunikation gehört, allerdings ist es falsch zu behaupten, allerdings ist es falsch, das Gegenteil zu behaupten: Einen Anschein zu vermitteln ist wichtig, aber wir sind vielmehr als dieser Anschein (die Realität).

Vergleichbar zu diesem oben erwähnten Neid wäre zu meinen, wenn man sich Beiträge in den sozialen Medien ansieht, dass jeder Mensch sich so gut (und zwar die ganze Zeit) fühlt, wie er/sie auf den Bildern aussieht (der Anschein). Wenn Menschen z. B. Fotos für Beiträge auf sozialen Medien aufnehmen und hochladen, wissen wir nicht, ob sie sich kurz vor oder nach der Bildaufnahme gestritten haben (eine mögliche Realität). Soziale Medien fixieren etwas in der Zeit (z. B. das Lächeln auf dem Strand mit Freunden), obwohl diese Momentaufnahme nicht zwangsläufig die Realität darstellt, die kurz vor oder nach der Bildaufnahme stattgefunden hat.

Wie würde es bei Ihnen ankommen, wenn ein Mensch ein Bild von sich selbst weinend auf Facebook/Instagram hochladen würde? Wie würden Sie das erleben, wenn ein fremder Mensch, ohne Sie wirklich zu kennen, Ihnen gleich erzählen würde, was in seinem Leben aus seiner Sicht derzeit schlecht läuft?

Es ist wichtig für das eigene Wohlbefinden zu erkennen, dass Menschen einen guten Eindruck machen möchten, um sozial gut anzukommen. Wer weiß, was sich hinter einem Small-Talk verbirgt?

Small-Talk ist ein Spiel

Letztendlich ist Small-Talk eine Strategie von mehreren, um das Fahrwasser zu testen, ob ich mich mit einem Menschen gut unterhalten kann. Es ist eine Form des Sicherheitsverhaltens, um mich abzusichern, ob ich mich mit dem Menschen, der gerade vor mir steht, längerfristig wohlfühlen kann und ihm eventuell mehr anvertrauen kann. Sich mit Empathie vorzustellen, dass ein Mensch selbst gerade mir etwas vorspielt, könnte uns helfen, solche Situationen nicht persönlich zu nehmen („Mit mir stimmt etwas nicht.“) und zu versuchen, das Beste daraus zu machen. Wenn Small-Talk ein Spiel ist, ist es ebenfalls unsere Chance, etwas Gutes aus diesem Spiel zu ziehen und eventuell gute Kontakte für unsere Zukunft aufzubauen oder für uns schlechte Kontakt rechtzeitig zu unterbinden, bevor man zu viel anvertraut hat und eine Bindung hergestellt wurde.

 

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Spielen!

Quellen

Interview mit Alain de Botton: https://www.youtube.com/watch?v=7emyPzP6KHI

Wikipedia-Beitrag von Edward Barneys: https://de.wikipedia.org/wiki/Edward_Bernays

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